Wir hatten Zeit
Ich bin Jahrgang 77. Entsprechend bin ich also in den 80er Jahren aufgewachsen, in der DDR, mit Klettergerüsten auf den Innenhöfen der Neubaublockviertel, mit Kindergruppen, die sich aus der Nachbarschaft zusammengewürfelt haben und Freundschaften gebildet haben, Verstecken gespielt haben, sich geärgert haben. Wir sind nach Hause gegangen, wenn es dunkel wurde. Und wenn unsere Eltern etwas von uns wollten, haben sie entweder aus dem Fenster gerufen oder haben einfach gewartet, bis wir wieder zu Hause waren.
Mobiltelefone und Smartphones gab es noch nicht. Selbst Telefone hatten noch nicht alle Haushalte.
Wenn wir uns treffen wollten, haben wir uns entweder am Vortag verabredet oder sind zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Wohnung der Freundinnen oder Freunde gefahren und haben an der Tür geklingelt.
“Kommst du raus?” war ein häufig genutzter Satz.
Draußen. Das war Freiheit und Spass. Wir haben gespielt und Blödsinn gemacht, gequatscht und uns gestritten.
Während wir draußen waren – oft stundenlang – gab es (bis auf den omnipräsenten Meckeropa) keine Störung, keine Nachrichten, keine Gepiepse, keine Videoschnipsel.
Wir hatten Zeit.
Natürlich waren wir auch mal drinnen. Wenn es draußen geschüttet hat, wollte natürlich auch damals niemand draußen sein. Aber die Zimmer waren kleiner als heute und mit den Geschwistern geteilt. Entsprechend gab es eine natürliche Motivation, die Wohnung verlassen zu wollen. Dann haben wir Bücher gelesen oder miteinander gespielt (oder gestritten).
Die einzige mediale Zertreuung falls wir nachmittags doch mal zu Hause waren, bestand aus dem Nachmittagskinderprogramm (allerdings in der Regel nur am Wochenende), der Samstagabendshow mit den Eltern oder dem im Hintergrund laufenden Radioprogramm mit viel Musik.
Kein wildes Geswitche zwischen Kanälen (es gab ohnehin nur eine handvoll Sender und wir musste zum Umschalten aufstehen und zum Fernseher oder Radio laufen), keine 12-Sekunden-maximale-Aufmerksamkeitshäppchen.
Wir hatten Zeit.
Die Welt ist heute eine andere.
Ich habe mir in den letzten Tagen des öfteren über die immer kürzer werden Halbwertzeit von Informationen aller Art Gedanken gemacht, auch und vor allem ausgelöst von Kommentaren diverser Leute um mich herum.
Morgens nach dem Aufstehen schauen die Kids auf ihr Smartphone und prüfen den Schulapp, ob sich irgendwas am Stundenplan geändert hat. Sie beantworten die ersten Nachrichten von Freunden. Währenddessen läuft die Vorbereitung für den Tag (Frühstück, Zähneputzen, etc.) und sie wetzen zur Bahn oder zum Bus.
Der Tag startet mit Zerstreuung. Die Kids haben keine Zeit.
In der Schule herrscht zwar nominell ein weitgehendes “Handyverbot” – aber in der Praxis ist das unbeherrschbar und die riesigen Klassen mit >30 Schülern sind gar nicht kontrollierbar. Irgendwo hat immer einer ein Handy unter dem Tisch in der Hand und die Kids sind abgelenkt.
Noch mehr Zerstreuung und keine Zeit für Konzentration.
Nach der Schule geht es genauso weiter. Entweder zu den Freunden und dort Minecraft, AmongUs, Mobile Legends oder sonstwas zocken, Videoschnipsel anschauen, Nachrichten lesen und schreiben, ... selbst wenn man den Kids keine Bildschirmzeit dafür einräumt, nutzen sie halt die Geräte von Freunden oder finden einen Weg, die Sperren zu umgehen. Ohne Smartphone geht es ohnehin nicht, weil die Kids sonst nicht mal zur Schule oder zurück fahren können – die Tickets sind nur noch digital verfügbar.
Zerstreuung und ganz viele Informationsschnipsel – keine Zeit für Konzentration
Und der Tag geht so weiter und zu Ende. Die Kids gehen quasi mit dem Mobiltelefon ins Bett und stehen mit diesem auf. Ja, man kann das versuchen einzuschränken – grenzt damit die Kids aber von jeglicher Verbindung zu Gleichaltrigen aus. Ich habe schon genug damit zu tun, WhatsApp, TikTok, Facebook und vergleichbaren medialen Müll zu verhindern. Eine komplette Einschränkung der digitalen Präsenz würde einem Urteil zu einem Außenseiterdasein gleichkommen.
Die Kids haben keine Zeit.
Meine Frau wird im Urlaub wieder versuchen, eine medienfreie Zeit durchzusetzen. Und sie wird nach kürzester Zeit an der Realität und dem geeinten Protest der Kids scheitern. Scheitern müssen.
Wir müssen uns also nicht wundern, wenn die Lehrinhalte auf TikTok-Größe zusammenschrumpfen (müssen), die Aufmerksamkeitsspanne nach 12 Sekunden enden (muss) und alles gleichzeitig passieren muss. Wir haben es den Kids (und inzwischen auch uns selbst) so beigebracht. Sie können gar nicht (mehr) anders.
Die “Generation TikTok” wird zwar oft gescholten, ist aber vielleicht vorwiegend ein Opfer der immer größer werdenden Flut an Informationen und der impliziten Aufforderung jetzt und sofort reagieren zu müssen. Das funktioniert natürlich nur, wenn an der Substanz gekürzt wird.
Wir haben unseren Kids die Zeit, die Ruhe und die Möglichkeit zur Langeweile genommen.